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Der Sjoomplu:694chreiner-Geselle aus Kottingwörth folgt uralter Handwerkstradition

"Losgehparty" im Treffer Stadel

Aufbruch in die Fremde am Tag danach

Vom Spätmittelalter bis ins 18. Jahrhundert mussten Handwerksgesellen auf Wanderschaft gewesen sein, wenn sie ihre Meisterprüfung machen wollten. War die Gesellenprüfung bestanden, wurden sie vom Meister „frei“ gesprochen und sie gingen auf die „Walz“, um neue Kulturen und vor allem neue handwerkliche Fertigkeiten kennenzulernen. Heutzutage gibt es diese Voraussetzung schon lange nicht mehr, aber trotzdem halten traditionsbewusste Handwerksgesellen die alten Bräuche hoch und unterwerfen sich den Jahrhunderte alten Regeln historisch gewachsener Handwerksvereinigungen, den sogenannten „Schächten“.

Patrick Muschaweck aus Kottingwörth wollte schon von klein auf Handwerker werden und auf die Walz gehen. Erst vor gut einer Woche hat er die Gesellenprüfung im Schreinerhandwerk mit sehr guter Note abgelegt. Am Samstag hat er seinen Wunschtraum Wirklichkeit werden lassen und zog als Mitglied der „Gesellschaft Freier Vogtländer Deutschlands“ hinaus in die Welt. Am Freitagabend hat er sich von seiner Familie und Verwandten sowie von Freunden und Bekannten verabschiedet. Am Samstagmorgen musste er dann seinem Heimatort nach einem festgelegten Ritual verlassen, ohne zurückzublicken.

Grundsätze der „Freien Vogtländer“

„Von 1000 Handwerksgesellen geht heutzutage etwa einer auf die „Walz“, so der Maurer Jakob Wiedemann, der sich als sogenannter „Reisender“ bereits seit über zwei Jahren auf Wanderschaft befindet. Zu diesen  ca. 500 „Fremdgeschriebenen“ gehört nun auch der 19-jährige Kottingwörther. Dass dazu eine Menge Wagemut, Abenteuerlust und Selbstvertrauen gehört, wird einem schnell klar, wenn man die Regeln und Grundsätze der Freien Vogtländer betrachtet.

In der Anfangsphase wird er von dem erfahrenen „Reisenden“ Jakob Wiedemann begleitet. WALZ, das heißt nach dem Infoblatt der seit 1910 bestehenden Freien Vogtländer die „Welt bereisen, Anders denken, Leben lernen, Zünftig sein“. Nicht nur in Deutschland möchte sich der frisch gebackene Kottingwörther Wandergeselle umsehen, auf seiner mindestens zwei Jahre dauernden Wanderschaft gehören zu seinen Zielen vor allem auch Norwegen und Schweden.

Wer auf die Walz geht, muss sich an verpflichtende Traditionen halten. Jeder Schacht hat seine eigenen Bräuche und Rituale. Nach den Grundsätzen der Freien Vogtländer, neben denen es zum Beispiel auch noch „Die Rechtschaffenden Fremden“ und „Die Rolandsbrüder“ gibt, soll er sich in dieser Zeit handwerklich und geistig weiterbilden, zur Weltoffenheit und Völkerverständigung beitragen und natürlich Handwerksbräuche und die Tradition des Handwerkswanderns hochhalten und festigen.

Feste Regeln

Es sind unbedingt einige feste Regeln einzuhalten: So darf der Fremdgeschriebene in seiner Reisezeit einen Bannkreis von 50 km um seinen Heimatort nicht betreten, auch nicht im Winter oder an Feiertagen. Er darf kein eigenes Fahrzeug besitzen und sich nur zu Fuß oder per Anhalter fortbewegen. Öffentliche Verkehrsmittel sind nicht strikt verboten, aber verpönt. Moderne Kommunikationsmittel wie ein Handy dürfen nicht benützt werden. Aber der Wandernde darf natürlich im Festnetz zu Hause anrufen oder sich außerhalb des Bannkreises mit seinen Eltern oder Freunden treffen. Während der ersten sechs Wochen ist jedoch jeglicher Kontakt untersagt. Die Wanderschaft darf nur aufgrund von wirklich zwingenden Gründen, z. B. bei einer schweren Krankheit, und dann nur im Einvernehmen mit seiner Gesellenzunft bzw. seinem Schacht unter- oder abgebrochen werden.

Aufnahmebedingungen

Beileibe nicht jeder wird bei den Freien Vogtländern aufgenommen. Deren Erkennungszeichen ist „Die goldene Ehrbarkeit“, eine besondere Handwerksnadel mit dem FVD-Symbol im eingeschlagenen Hemdkragen, das sich auch noch auf der Gürtelschnalle findet. Ergänzt wird dies noch durch zwei Perlmuttknöpfe am Revers des Jacketts und drei weitere am Hosenschlag. Die Ehrbarkeit wird nur an Gesellen vergeben, die sich im Vorfeld bewähren, ledig, kinderlos sowie schulden- und straffrei sind. Nicht nur Zimmerer, Schreiner und Tischler, sondern auch andere Holz- und Steinberufe, z. B. Maurer und Dachdecker, können bei den Vogtländern zünftig auf Wanderschaft gehen. „Zünftig“ heißt in diesem Zusammenhang, sich so zu verhalten, dass der nachfolgende Wandergeselle bei einem Betrieb, einer Unterkunft usw. ebenfalls gern gesehen ist. Dies war und ist sehr wichtig, da ein Reisender bei der Suche nach Arbeit oder einer Unterkunft auf die Hilfe der Bevölkerung angewiesen ist. Hatte sich früher ein Geselle unehrenhaft verhalten, wurde ihm sein Ohrring ausgerissen, er war damit als „Schlitzohr“ gebrandmarkt.

Ausrüstung und Kleidung

In der Öffentlichkeit muss der Fremdgeschriebene immer seine maßgeschneiderte Kluft tragen: Hut, weite Schlaghosen, Weste und Jackett alles in Schwarz, darunter ein kragenloses weißes Hemd, die „Staude“. Auffällig ist auch der Stenz, ein teilweise gewundener  Wanderstock. All sein Hab und Gut verstaut der Wandergeselle in einem Charlottenburger, kurz „Charlie“ genannt. Das ist ein circa 88 mal 88 Zentimeter großes farbig bedrucktes verknotetes Tuch. Natürlich besitzt das Jackett aus schwerem Stoff viele Innentaschen, um noch kleinere Utensilien mitführen zu können. Sein Gewicht wird dadurch noch größer – insgesamt eine  schweißtreibendes Kluft bei der derzeitigen Hitze!

An der Form des Hutes kann man übrigens den Status des Wandergesellen erkennen. Im ersten Jahr trägt er einen Schlapphut: Er hat die Welt noch nicht gesehen, sie ist noch eine Scheibe. Im zweiten Jahr symbolisiert dann die Melone, dass der Wandernde beruflich und menschlich gereift ist: Die Welt wird rund. Der Zylinder im dritten Jahr deutet auf das nahende Ende der Wanderschaft hin: Der Hutträger ist wieder frei für die Damenwelt, er kann auf Brautschau gehen.

Im mitgeführten Wanderbuch werden die Stadtsiegel der besuchten Orte gesammelt, nachdem der Wandergeselle bei deren Bürgermeistern „zünftig um das Siegel vorgesprochen“ hat. Dadurch kann er nachweisen, dass er wirklich weit herumgekommen ist und viele unterschiedliche Arbeitseinsätze hatte, was ja der Sinn des Unternehmens ist.

Patrick hat Jakob, der ihn in der Anfangsphase begleiten wird, bei einem sog. Reisenden-Treffen in Ramstein kennengelernt, das er besucht hat, um seinen Kindheitstraum in die Tat umzusetzen. Vor vier Wochen hat ihn Jakob Wiedemann schon einmal in Kottingwörth besucht. Am letzten Freitag ist er wiedergekommen – und diesmal wurde es ernst. Und als Neuling wird man nicht einfach nur abgeholt.

Die „Losgehparty“

Zu den Ritualen gehört zum einen eine große Losgehparty, bei der das berüchtigte „Nageln“ stattfindet. In Kottingwörth gibt es dafür keinen besseren Ort als den altehrwürdigen Treffer-Stadel. Gerne hat der Kulturverein dessen Tore für dieses einmalige kulturelle Ereignis geöffnet. Insgesamt 70 Familienangehörige, Bekannte und Freunde fanden sich voller Erwartungen im Stadel ein. Denn es ist außerdem der Brauch, dass weitere Wandergesellen, die sich zufällig in der Nähe befinden, „anreisen“, gebührend mitfeiern und bestimmte Rituale vollziehen. So gaben sich am späten Nachmittag plötzlich sechs weitere Freie Vogtländer in Kottingwörth die Ehre, die mit ihrer Kluft natürlich sofort große Aufmerksamkeit erregten. Darunter waren zwei Schweizer, ein Oldenburger, ein Offenbacher, ein Heidelberger und ein Wandergeselle aus Reichelsheim im Odenwald. Sie waren aus Landshut, Weilheim und Bad Kissingen „angereist“. Ihre Ungezwungenheit, aber auch ihr Selbstbewusstsein hinterließen großen Eindruck.

Nach einem deftigen Braten mit Knödeln zeigte sich bald, dass die Wandergesellen einen großen Durst mitgebracht hatten und auch ihren neuen Schützling immer wieder in ihre Lieder und Trinksprüche mit einbezogen. Patrick war natürlich sehr wohl bewusst, dass er an diesem Abend nicht nur im Mittelpunkt steht, sondern auch ganz schön tapfer sein muss. Und was dann folgte, wird es in Kottingwörth vielleicht nie wieder geben.

Zunächst mussten sich alle Gäste in einem großen Kreis aufstellen. Dann wurde Patricks Hut mehrmals mit Bier gefüllt und wirklich jeder musste daraus trinken. Zum Abschluss erhielt der Neuling eine überraschende Biertaufe, indem ihm einer der Vogtländer beim Trinken urplötzlich den vollen Hut überstülpte. Dann folgte der Höhepunkt des Abends: Auf einem großen Holzstock wurde Patricks linkes Ohrläppchen von seinem Meister mit einem spitzen Nagel durchschlagen, damit anschließend ein Ohrring mit Kugel angebracht werden konnte. Einige Schnäpse sollten den Schmerz lindern, doch der Tapfere verzog keine Miene und lächelte teilweise bei der Prozedur. Wieder kreiste sein Hut: Er musste jetzt von den Anwesenden freigekauft werden, solange blieb er an den Holzstock genagelt! Das eingesammelte Geld dient ihm zugleich dazu, in nächster Zeit finanziell zurechtzukommen.

Nach der Vollzugsmeldung wurde der junge Kottingwörther von den Freien Vogtländern als einer der ihren vorgestellt. Dann hatte er die Gelegenheit, einige Abschiedsworte zu sprechen. Feuerwehrkommandant Martin Beckenbauer übernahm es, dem Aktiven der Freiwilligen Feuerwehr  auf seinem Weg alles Gute zu wünschen. Er stellte heraus, dass er jetzt der Botschafter des Dorfes sein werde. Denn die erste Frage in der Fremde sei ja immer: „Woher kommst du denn?“ Als Erinnerungsanker gab er Patrick Muschaweck eine Dorfansicht im Postkartenformat mit den Unterschriften der Anwesenden mit auf den Weg.

Abschied und Aufbruch in die Fremde

Am Samstagmorgen war es dann endgültig so weit: Kurz nach 10 Uhr machten sich die Wandergesellen vom Elternhaus aus auf den Weg durch das Dorf zur gegenüberliegenden Ortsausfahrt, gefolgt von den meisten Gästen vom Vorabend und weiteren Dorfbewohnern einschließlich eines Löschtrupps der Freiwilligen Feuerwehr. Am Ortsschild fand das letzte Ritual statt: Patrick musste ein 80 Zentimeter tiefes Loch ausheben. Anschließend musste er nach Vorgaben seines Begleiters Jakob eine Karte mit großen deutschen Städten, Flüssen und Autobahnen zeichnen, um seinen Orientierungssinn zu testen. Auch angepeilte Ziele sollte er eintragen. Ein anderer freier Vogtländer sammelte Zettel mit guten Wünschen der Anwesenden und steckte diese in eine Flasche mit Schraubverschluss. Zusammen mit einer Schnapsflasche wurden diese Utensilien dann in dem Loch vergraben. Bei seiner Rückkehr kann er diese wieder herausholen und eine vergleichende Bilanz ziehen.

Vor dem letzten Akt umarmte er seine Eltern, Verwandten und Freunde, die ihm die besten Wünsche mit auf den Weg gaben. Bei nicht wenigen flossen die Tränen. Dann musste er mit all seinen Habseligkeiten über das Ortsschild klettern, konnte auf dem Schild ein letztes Mal zurückwinken, wurde anschließend von den anderen Vogtländern weggezogen und durfte sich keinesfalls noch einmal umdrehen. Jetzt war er endgültig ein „Fremdgeschriebener“. Durch einen „Wasserdom“ der Freiwilligen Feuerwehr ging`s dann auf der Straße am Wassersteg entlang hinaus in die Fremde.

Mindestens zwei Jahre bis zur „Einheimischmeldung“

Erstes Ziel der nun acht Freien Vogtländer war Hilpoltstein. Dort befindet sich eine ihrer Herbergen, die für ihre Treffen dient. Solche Herbergen sind auf der ganzen Welt verteilt, beispielsweise sogar auf den Philippinen, vorwiegend jedoch im deutschsprachigen Raum. Dort haben Reisende und Einheimische stets einen Anlaufpunkt, um Erfahrungen auszutauschen. Für Patrick Muschaweck fand in Hilpoltstein noch am Samstag das sogenannte „Aufklopfen“ statt. Wie diese Zeremonie abläuft, wollten die Freien Vogtländer nicht verraten. Auf jeden Fall erhält der Neuling dabei sein Wanderbuch, „Die goldene Ehrbarkeit“, also die  besondere Handwerksnadel mit dem FVD-Symbol und außerdem die Perlmuttknöpfe an Jackett und Hosenschlag. Dann ist er endgültig ein „Freier Vogtländer“.

Wohl nach zwei bis drei Jahren wird er in sein Heimatdorf zu seinem Elternhaus zurückkehren, dann kann er sich wieder „einheimisch melden“. „Er wird dann gewiss ein anderer sein, mit großer Lebens- und Berufserfahrung“, waren sich alle beim Abschied einig. „Das Leben da draußen wird ihn prägen, es ist der beste Lehrmeister.“

Die Einheimischmeldung wird wieder groß gefeiert. Die vergrabenen Utensilien werden aus dem Erdloch geholt und viele frühere Reisekameraden werden anwesend sein. Für diese Feier nehmen die Freien Vogtländer weite Anreisen in Kauf, um dabei sein zu können. Der Treffer-Stadel freut sich schon auf das nächste ungewöhnliche Highlight mit absolutem Seltenheitswert.