Von Josef Wittmann
„Ja, mein Leben war reichlich ausgefüllt!“ Dieses Lebensfazit schrieb mir Schwester Theresia Maria Müller (in den USA: Sr. Therese Marie Mueller) im Juni 2024 aus den USA. Dorthin hatte sie ihr Orden, die Kongregation „Schwestern von der Schmerzhaften Mutter“ („Sisters of the Sorrowfull Mother“) entsandt. Am 9. Mai 2025 ist sie in Oshkosh, Wisconsin, im Alter von 85 Jahren verstorben.
Ihre amerikanische Ordensniederlassung hat in Erinnerung an sie ein Memorial ins Internet gestellt. Es besteht aus einer Fotosammlung, die ihre Kindheit, ihre Stationen und Tätigkeiten als Nonne, ihre Heimatbesuche in Kottingwörth bei der Familie Graf etc. umfasst. Die aufschlussreiche Fotoshow ist mit diesem Link erreichbar: https://www.youtube.com/watch?v=HGcuZYIWVjs
Die folgenden Ausführungen stützen sich auf eine Autobiografie von Sr. Therese Marie, die sie im Jahr 2006 verfasst hat. Ergänzt wird diese durch den Text „Höhepunkte meines Lebens“, der auch noch über die folgenden Lebensjahre informiert. Außerdem haben mich ihre entfernte Verwandte Ingrid Frühauf aus Töging und ihre Cousine Lisa Graf, die zeitlebens mit ihr in Kontakt waren, mit Informationen versorgt.
Sie und ihr Zwillingsbruder wurden am 7. Januar 1940 in Brey bei Koblenz geboren, getauft mit den Namen Kreszentia und Lambert. Ihre Eltern waren Karl und Regina Müller, geborene Graf aus Kottingwörth. Der Vater verstarb im April 1945 in einem Lazarett, die Mutter 2002 im Alter von 89 Jahren.
Nachdem Karl Müller in den Krieg ziehen musste, zog die Mutter mit ihren Kindern 1941 zu ihrer Schwester Katharina nach Kottingwörth, die hier einen kleinen Bauernhof, das Graf-Anwesen, bewirtschaftete. Ihre Brüder, Alois und Vitus Graf, waren im Krieg. Die Kriegsjahre in Kottingwörth haben Kreszentia entscheidend geprägt: „Ich habe mich immer als Bayer gefühlt“, schreibt sie in ihrer Autobiografie. Die Kriegs- und Nachkriegsjahre blieben ihr unvergesslich: So schildert sie beispielsweise die Rückzugsgefechte mit der Brückensprengung. Trotz der damaligen Nöte und Gefahren beschreibt sie ihre Kindheit in dem beschaulichen Altmühldorf als überaus „glücklich“. Sie wuchs hier zusammen mit ihrem Zwillingbruder Lambert auf, wie auch die Fotos zeigen. Von 1946 bis 1954 besuchten sie die Volksschule in Kottingwörth. Lambert wohnte später in Gmund am Tegernsee, er ist 2024 verstorben.
Schwester Theresia Maria hat zeitlebens Kottingwörth als ihre erste Heimat betrachtet und die Verbindung nie abreißen lassen. Immer wieder, zuletzt 2022, besuchte sie die Heimat mit ihren engsten Verwandten und auch Freunden/Freundinnen. Im Zeitalter der modernen Medien hat sie diese Kontakte zusätzlich per E-Mails gepflegt.
So schrieb sie beispielsweise: „In jedem Heimaturlaub habe ich Kottingwörth besucht, auch im August 2022“. Wie gewohnt kam die ganze Graf-Verwandtschaft im Gasthaus zur Sonne zum Essen zusammen. Sie schwärmte vom guten bayerischen Essen. „Ja, die Heimat vergesse ich nie und es war mir immer eine Freude einen Besuch dort zu machen und auch die schöne Kirche zu besuchen und den Friedhof.“
„Heimat ist Heimat“, stand in einer ihrer Mails. Im Mai 2024 schrieb sie: „Herzliche Grüße aus USA, welche seit 14. Juni 1961 meine zweite Heimat ist. Überall fühle ich mich wohl, aber die erste Heimat vergesse ich natürlich nie!“
Ältere Dorfbewohner können sich sicherlich noch an die „Grafen-Zenzi“ erinnern. Enge Verbindungen bestanden über die Jahrzehnte hinweg in erster Linie zu ihrer Familie in Kottingwörth: zu Tante Kathl, Tante Hanni, Onkel Alois, zu ihrer Cousine Lisa und ihrem Cousin Alois. Der Kontakt riss auch nie ab zur Vogelthaler Verwandtschaft (Familie Wittmann), zur Nachbarfamilie Neger mit der Schuster-Oma sowie zu den Schulfreundinnen Mimi Koller, Helga Zehentmeier und Marianne Mödl - nicht zuletzt zu Ingrid Frühauf aus Töging.
Andreas Ach hat zwar einen kurzen, mir bekannten Eintrag in seiner Kottingwörther Dorfchronik hinterlassen, aber dieser muss inzwischen natürlich erweitert, teilweise auch berichtigt werden. Dies hat Sr. Therese Marie selbst festgestellt, nachdem ich ihr 2024 den Eintrag samt einigen Fotos von Kottingwörth gemailt hatte.
Dabei wies sie auch darauf hin, dass die Einäscherung des Nebengebäudes der Familie Graf infolge Blitzschlags bei einem nächtlichen Gewitter nicht 1954 war, wie in der Chronik zu lesen ist, sondern am 15. August 1952.
Auch bei einem Dorf-Foto, eingeschätzt um 1940, half ihr Erinnerungsvermögen weiter:
„In Bezug auf das alte Foto von Kottingwörth, was mich sehr gefreut hat: Die Aufnahme muss vor 1938 gemacht worden sein, denn das neue Grafen-Haus wurde 1938 vom Großvater erbaut.“
Ein bleibendes Geschenk für ihr Heimatdorf und zugleich eine bleibende Erinnerung an sie ist die Kopie der russischen Ikone „Betende Jungfrau“, welche die Nische der Waldkapelle schmückt, den Ort der jährlichen letzten Maiandacht. Diese wurde der Pfarrei 1989 von Schwester Therese Marie gestiftet und 1992 in die Nische eingefügt.
Ab 1954, mit dem Besuch des Deutschen Gymnasiums in Ursberg (südwestlich von Augsburg), führte der Lebensweg der Internatsschülerin allmählich weg von ihrem Heimatdorf, insbesondere im September 1956 nach ihrem Eintritt in das Kloster Marienburg (Kongregation der Schwestern von der Schmerzhaften Mutter) in Abenberg (zwischen Schwabach und Spalt gelegen). Im August 1958 wurde sie mit dem Namen Maria Gaudentia investiert (eingekleidet). Ihr Orden schickte sie schließlich 1961 in die Vereinigten Staaten. Pilgerreisen führten sie zudem nach Lourdes, Fatima, Rom, Medugorje, Lisieux, Irland, Garanbadal, Krakau und ins Heilige Land.
In ihrer Autobiografie ist zu lesen: „Im Sommer 1965 durfte ich nach Milwaukee zurückkehren, um mich auf meine ewigen Gelübde vorzubereiten. Der große und gesegnete Tag meiner endgültigen Profess war der 12. August 1965. Ich verlobte mich für immer mit Jesus.“
Zu ihren Namensänderungen schrieb sie an mich selbst:
„Mein "erster" Schwesternname bei meiner Einkleidung in Abenberg am 12. Aug. 1958 war Maria Gaudentia (auf englisch natürlich Mary). Wir konnten unsere Namen nicht wählen.
Als ich in der Schule lehrte (in den USA), war das ein schwerer Name auf englisch auszusprechen für die Kinder und für die Eltern. Da mein Taufname "Kreszentia" ist, war dieser Name auch zu schwer auszusprechen. - 1968 erhielten wir Schwestern die Erlaubnis, unsere "schwierigen" Namen zu wechseln und zum Taufnamen zurückzugehen. Das konnte ich nicht tun (auch ein paar andere Schwestern nicht). So durfte ich einen neuen Namen wählen und nahm die kleine hl. Theresia als Patronin (auf englisch Therese Marie --- auf deutsch heiße ich mich Theresia Maria und auf italienisch Theresa Maria!)“
In ihrer Mail vom 28. Mai 2024 hat sie den von A. Ach verfassten Lebenslauf in der Sie-Form folgendermaßen zusammengefasst und in Teilen abgeändert:
„[ ...] Am 14. Juni 1961 kam sie nach Amerika. Die ersten zwei Jahre verbrachte sie in Milwaukee, Staat Wisconsin, und drückte die Schulbank in der so genannten High School (ähnlich der Realschule). 1963 wurde sie nach Denville, Staat New Jersey, versetzt. 1964 begann sie mit dem höheren Studium (College) in Seton Hall University, New Jersey, und erhielt ein B.S. Diplom (Bachelor of Science) in Modernen Sprachen.
In Denville lehrte sie nur 5 Jahre und 1 Jahr in Wichita, Staat Kansas.
Die nächsten 15 Jahre war sie im Finanzbüro tätig (Umschulung). In der Zwischenzeit besuchte sie auch the Pontifical Catechetical Institute in New York, St. Joseph Seminary, angegliedert an die Catholic University of America in Washington, D.C., wo sie 1983 ein Magister (Master) Diplom für Religiöse Erziehung/Spiritualität erhielt. Sie lebte also 25 Jahre im Staat New Jersey.“
Ihre letzte Lebensphase seit 2014 verbrachte sie in Oshkosh, Wisconsin.
Schwester Therese Marie war mit großer Tatkraft und vielen Talenten gesegnet:
So übte sie den Lehramtsberuf für moderne Sprachen im Sekundarbereich aus, u. a. mit Spanisch als Hauptfach. Sprachgewandt unterrichtete sie auch Deutsch und Englisch. Zudem hatte sie 1983 den „Master of Religious Education“ erworben. Ihre Tätigkeit als Lehrerin unterbrach die 15-jährige Berufung ins Finanzbüro des St. Francis Health Resort, was die tatkräftige Schwester nicht davon abhielt, von 1980 bis 1983 den oben genannten Master durch ein Parallelstudium zu erwerben. Ihre musikalische Befähigung zeigte sie mit Klavier- und Orgelspiel. Schon als Schülerin hatte sie das Zitherspiel gelernt. Das alles zeugt von einer bewundernswert vielseitigen Begabung.
Nicht zuletzt war sie ab 1990 in leitender Funktion, als sog. Postulatorin, am Seligsprechungsprozess ihrer Ordensgründerin Mutter Franziska Streitel (1844 – 1911), geboren in Mellrichstadt, beteiligt. Als solche musste sie eine sogenannte "Positio", eine Lebensdarstellung mit allen relevanten Zeugnissen, zusammenstellen und einreichen, was eine jahrelange intensive Recherchearbeit erforderte.
Informationen dazu findet man zum Beispiel mit dem Link
https://heilige.bistum-wuerzburg.de/kandidaten/mutter-franziska-streitel/
Für schnell Interessierte hier daraus die wesentlichsten Informationen zu diesem Seligsprechungsprozess:
Dieser wurde aufgrund von „wunderbaren Gebetserhörungen“ bereits 1937 eröffnet und Mutter Franziska der Titel „Dienerin Gottes" zuerkannt. Nach Abschluss des Diözesanverfahrens im Jahr 1940 wurden die Akten nach Rom gesandt, 1947 der Apostolische Prozess eröffnet und der Franziskaner-Minoriten-Pater Aquilin Reichert zum Postulator ernannt.
Doch was zunächst so hoffnungsvoll begonnen hatte, sollte sich über Jahrzehnte - bis heute -hinziehen: Denn nachdem sowohl dessen Positio von 1956 als auch deren Überarbeitung von 1964 wegen bemängelter Lücken abgewiesen worden und Pater Aquilin 1968 verstorben war, ruhte der Prozess.
Erst 1990 ging es wieder voran: Schwester Theresia Müller wurde mit der Wiederaufnahme des Prozesses beauftragt und zur Postulatorin ernannt. 2003 reichte sie ihre umfangreiche Positio ein, am 27. März 2010 erkannte Papst Benedikt XVI. Mutter Franziska Streitel den heroischen Tugendgrad zu, womit die erste wichtige Voraussetzung für eine Seligsprechung erfüllt ist. Sie wurde vom Papst zur „Ehrwürdigen“ erklärt, wie Sr. Therese Marie schreibt.
Was jetzt noch fehlte, war der Nachweis eines Wunders, wozu der nach medizinischen Grundsätzen nicht erklärbare plötzliche Heilungsprozess eines Koma-Patienten aus Oshkosh dienen sollte. Schwester Therese Marie strengte von 2002 bis 2005 mit intensiver Arbeit den nötigen Römischen Wunderprozess an, wozu sie die meiste Zeit in Rom lebte, wodurch sie auch noch Italienisch lernte. Aber letztlich erkannte das vatikanische Ärzteteam 2010 die Wunderheilung nicht an. Seitdem liegt der Seligsprechungsprozess auf Eis – bis ein akzeptiertes Wunder geschieht.
In ihrer Autobiografie von 2006 und in ihrem „Höhepunkte“-Text – zusammen etwa 14 eng bedruckte Seiten – hat Sr. Therese Marie ihren Lebensweg noch viel detailreicher dargestellt, was aber hier zu weit führen würde.
Am 1. Mai 1967 wurde sie amerikanische Staatsbürgerin, aber in ihrem Herzen hatte sie immer einen Platz für Kottingwörth. Zu den Bekannten und Verwandten ihrer Heimatregion hat sie den Kontakt nie abreißen lassen.
Am 9. Mai endete ihr von einem unerschütterlichen Glauben geprägter weiter Lebensweg, den sie als „reichlich ausgefüllt“ empfunden hat. Sie hat einiges von der Welt gesehen und viel Gutes bewirken können. Nach Aussage ihrer Cousine Lisa Graf betrachtete sie die Begegnung mit Papst Johannes Paul II. als ihr größtes Erlebnis. Aber vor allem galt ihre Liebe und Aufmerksamkeit der Natur und hier wiederum dem Unscheinbaren. Sie hatte zeitlebens Freude an den kleinen Dingen, zum Beispiel ihren Lieblingsblumen, den Gänseblümchen.
Ich habe sie nie persönlich kennen gelernt. Aber ihr freundliches Wesen, ihre Bescheidenheit und ihre Heimatliebe, die in ihren Mails zum Ausdruck kamen - nicht zuletzt ihr Lebensweg und ihre Lebensleistung - haben mich tief beeindruckt.