Der Hungervogt vom Pfenninghof – Fantasie und wahrer Kern
Was uns Sagen erzählen, kann man natürlich nicht für bare Münze nehmen. Viele enthalten jedoch auch einen wahren Kern. Indem die Texte oft auf reale Begebenheiten Bezug nehmen, dabei Personen- und Ortsnamen nennen sowie auch Zeitangaben machen, erwecken sie den Eindruck, ein wahres Geschehen zu berichten. Dem steht oft ganz offensichtlich die fantasievolle, völlig übertriebene inhaltliche Ausgestaltung gegenüber. So kann jedermann leicht das Verlassen der Realitätsebene erkennen.
Bei der Sage „Der Hungervogt vom Pfenninghof“ mit ihrem mörderischen Inhalt ist das gar nicht so einfach. Will man dem realen Kern einer Sage näherkommen, sollte man natürlich einigermaßen über den relevanten historischen Hintergrund Bescheid wissen.
Schon am 31. März 1956 war im DONAUKURIER ein aufschlussreicher Artikel über den Pfenninghof auf dem Arzberg mit der hier wiedergegebenen Abbildung des Hauptgebäudes zu lesen. Kurz nach Beginn des Textes blickt der Verfasser auf die „wechselvolle Geschichte“ zurück und berichtet, dass einst die Fürstbischöfe von Eichstätt, „denen der Arzberg mit seinen rund 4000 Tagwerk Wald gehörte“, dort „ein Jagdschloss mit vier Ecktürmen und etlichen Erkern“ erbauen ließen. Im ersten Stock sei ein Rittersaal gewesen, wo der Vogt, der Vertreter der Obrigkeit, mit seinem Anhang viele Feste gefeiert habe. Dann folgt eine Kurzfassung der Hungervogt-Sage, deren Geschehen sich genau in diesem Schloss abgespielt haben soll.
Liest man in Felix Maders detailreichen Buch über die Geschichte des Schlosses und Oberamtes Hirschberg nach, dann steht da nur, dass „der Pfenninghof, ein Einödhof auf dem Arzberg, 1407 erstmals als bischöfliches Lehen genannt“ wird. Auch im weiteren Verlauf des Textes steht nichts von einem Schloss als Herrschaftssitz eines bischöflichen Vogts. Dieser ist aber die zentrale Figur der Sage „Der Hungervogt vom Pfenninghof“, die in einer der überlieferten Fassungen folgendermaßen beginnt:
„Zur Zeit des 30-jährigen Krieges erhob sich dort, wo heute der Pfenninghof auf dem Arzberg zwischen Dietfurt und Beilngries steht, ein Jagdschloss der Fürstbischöfe von Eichstätt. Der damalige Vogt konnte mit viel List und Schläue Schloss und Gut vor den Kriegswirren retten. Weder die schwedischen noch die kaiserlichen Kriegshorden setzten ihm den roten Hahn aufs Dach. In den Dörfern ringsum herrschte bitterste Armut, während der Vogt mit gleichgesinnten Freunden in Saus und Braus lebte. Seine Knechte waren Tag für Tag unterwegs, um dem bedrückten Landvolk auch noch die letzte Habe wegzunehmen. Nachts feierte der Vogt bei sorgfältig verdunkelten Fenstern im hell erleuchteten Saal ein Fest nach dem anderen. Wenn die hungernde Bevölkerung von ihm Nahrung erbat, ließ er sie mitleidslos vertreiben. Bei hartnäckigen Bittstellern griff er selbst zur Peitsche oder hetzte ihnen die Hunde an die Fersen. Über die Mauern schrien die Abgewiesenen: `Hungervogt, sieh dich vor! Gottes Strafe wird dich auch noch ereilen!`“
Dass im 30-jährigen Krieg (1618-1648) ab Mitte der 1630er Jahre plündernde Kriegshorden durch die Region zogen und bitterste Armut herrschte, ist bekannt. Auch dass sowohl die protestantischen wie die katholischen Landsknechte der Bevölkerung grausam zusetzten, stimmt. Das ist der wahre historische Kern der Sage. Mit der Schilderung des äußerst dramatischen Einzelschicksals der Frau und ihrer beiden Töchter aus dem Tal soll dann die besondere Grausamkeit des Vogts veranschaulicht werden. Durch die ausweglose Situation des Sohnes erfährt der Sageninhalt eine zusätzliche Dramatisierung. In welchem Ort im Tal die Familie beheimatet war, bleibt offen. Am nächsten liegt jedoch Kottingwörth. Im Text geht es folgendermaßen weiter:
„Eines Tages kam vom Tal herauf eine Frau, abgezehrt und früh ergraut, mit ihren beiden hohlwangigen Töchtern. Einer der Knechte, der jüngste, erschrak sehr, als er sie sah. Denn er erkannte in ihnen Mutter und Schwestern. Doch konnte auch er ihnen nicht helfen. `Jagt die Bettlerin aus dem Tor!`, schrie der Vogt`, und wenn sie noch einmal kommt, schleift sie an den Haaren den Berg hinunter!` Der junge Knecht schaute mit brennenden Augen den Davoneilenden nach. Bald darauf erfuhr er, dass Mutter und Schwestern verhungert waren.
Einige Tage später nahte sich dem Schlosse eine Schar verzweifelter Landbewohner.“
Es ist auch noch eine ausführlichere Fassung der Sage überliefert. In ihr quält sich die Frau insgesamt dreimal den Berg hinauf zum Schloss, zuletzt nur noch mit einer Tochter. Die andere ist bereits verhungert. Der überaus hartherzige Vogt greift sogar selbst zur Peitsche, um sie zu verjagen. Auch seine Frau, die ja später mit ihm getötet wird, erweist sich um keinen Deut besser und jagt Mutter und Tochter eigenhändig mit Peitschenhieben den Berg hinunter. Beide seien dann nie mehr gekommen und verhungert. So wird auch die „Hinrichtung“ der Gattin des Vogts gerechtfertigt. Dabei spielt der Sohn in der ausführlicheren Fassung als „Henker“ eine viel aktivere Rolle als hier in der Fortsetzung:
„Der junge Knecht ließ die dreißig vermummten Gestalten heimlich in den Hof und führte sie in den Saal. Mit hölzernen Knüppeln in den Fäusten bemächtigten sie sich des Vogtes und seiner Frau, schleppten sie in die Speisekammer und ließen sie vor der Mehltruhe niederknien. Dann öffneten die Männer die schwere eisenbeschlagene Kiste. Die beiden Hartherzigen mussten ihre Köpfe auf den Rand der Truhe legen. Im selben Augenblick ließ man den schweren eichenen Deckel zuklappen. Der niedersausende Deckel brach den beiden die Halswirbel. Nach dieser wohl einmaligen Hinrichtungsart verteilten die Bauern die vorhandenen Lebensmittelvorräte unter sich und steckten das Schloss in Brand.“
Mit der Brandstiftung wird offensichtlich auf den tatsächlichen Brand im 30-jährigen Krieg Bezug genommen. Damit endet der kürzere Text. So mancher Hörer oder Leser der Sage mag vielleicht noch Fragen nach dem weiteren Schicksal des Sohnes gestellt haben, der ja letztlich „zugeschaut“ hat, wie seine Mutter und Schwestern verhungert sind. Hat er nicht zu spät gehandelt? Man kann sich gut vorstellen, dass die Sage deshalb erweitert wurde. Daher soll hier noch der teilweise grausige Schluss der längeren Fassung nach der Hinrichtung wiedergegeben werden:
„Was das Schloss an Vorräten barg, wurde in den nächsten Tagen weggeschleppt. Die beiden Leichen blieben längere Zeit als Abschreckung an Ort und Stelle. Als feindliche Haufen wieder das Land unsicher machten und das Schloss betraten, genügte der Anblick der vor der Mehltruhe kauernden Toten, um die Soldaten unverzüglich das Weite suchen zu lassen. Bald darauf ging das Schloss in Flammen auf.
Jener Knecht aber, der Gottes Strafgericht vollzogen hatte, wanderte in die Fremde, denn er fühlte sich mitschuldig am Tod seiner Mutter und Geschwister.“
Eine Frage bleibt noch: War die „Hinrichtung“ trotz der grausamen Vorgeschichte nicht ein brutaler Doppelmord? Haben sich die Bauern und der Sohn nicht schwer versündigt? Dem aufmerksamen Leser wird aufgefallen sein, dass die Sage die Täter voll und ganz von jeglicher Schuld freispricht: Denn im letzten Satz heißt es, der Knecht habe „Gottes Strafgericht vollzogen“, er habe sozusagen als Werkzeug Gottes gehandelt. In der Kurzfassung wird darauf schon früh verwiesen: „Über die Mauern schrien die Abgewiesenen: `Hungervogt, sieh dich vor! Gottes Strafe wird dich auch noch ereilen!`“
Denkbar ist das schaurig-mörderische Geschehen im 30-jährigen Krieg, der viele Menschen extrem verrohen hat lassen, durchaus. Aber wie weit reicht der wahre Kern? Muss man schon den Herrensitz eines Vogts auf dem Pfenninghof von vornherein als ein Fantasieprodukt abtun, wie das Kapitel über den Gutshof auf dem Arzberg in Felix Maders Buch vermuten lässt? Allerdings schreibt auch der erste Kottingwörther Dorfchronist, der ehemalige Hauptlehrer Andreas Ach, vom stattlichen Jagdschlösschen der Eichstätter Fürstbischöfe auf dem Arzberg, das einem Brand zum Opfer gefallen sei. Ebenfalls ist bei ihm von einem Vogt die Rede – allerdings auf die Zeit des Mittelalters bezogen. Ach nennt leider keine Quellenangaben.
Laut heutigem Hofherrn Eckart Geiger soll der Brand im 30-jährigen Krieg beim Durchzug der marodierenden Schweden das Schlösschen verheert haben. Wieder aufgebaut bot und bietet der Gutshof ein anderes Bild - ohne Ecktürme und Erker – so wie er auf dem Gemälde (Kopie des wertvollen Originals) in der 1704 erbauten Kapelle unmittelbar vor dem Hof zusammen mit den 14 Nothelfern zu sehen ist. Eckart Geiger weiß aber auch von einem einst in Familienbesitz befindlichen alten Gemälde zu berichten, auf dem das Schlösschen abgebildet war, und zwar genau so wie in der Sage beschrieben. Es ist jedoch seit den Wirren der letzten Kriegstage im Jahr 1945 verloren. Dessen Maler hat sich jedoch womöglich vom Sagentext inspirieren lassen. Mehr Klarheit können letztlich – wie so oft - nur nähere Nachforschungen in diversen Archiven ans Tageslicht bringen.
Fotos:
- Repro des Schwarzweiß-Fotos vom Pfenninghof im DK am 31. März 1956
- Hinter Bäumen verstecktes Hauptgebäude und Kapelle von 1704 (1999 renoviert) am 24.01.21
- Ausschnitt des Gemäldes in der Kapelle mit sieben der 14 Nothelfer (in der Mitte St. Vitus mit dem für ihn typischen Kessel), darunter eine Abbildung vom Pfenninghof
- etc.