Die verlorenen Renaissance-Malereien in der Vituskapelle
Die Pastoralblätter, die Amtsblätter des Bistums Eichstätt, reichen bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts zurück. Sie stellen eine wichtige Quelle für Heimatforscher der Region und Interessierte dar. Einzusehen sind sie beispielsweise im Eichstätter Diözesanarchiv. Bei ihrer Lektüre kann man so manche überraschende Entdeckung machen.
Im Pastoralblatt 38 von 1891 ist so ein „Schatz“ zu finden. Hier hat der Prälat und Historiker Joseph Schlecht den Beitrag mit dem Titel „Ein Denkmal altchristlicher Kunst in der Pfarrkirche zu Kottingwörth“ veröffentlicht. Nun sind die mittelalterlichen Fresken der Vituskapelle oft genug beschrieben worden. Aufhorchen lässt hier aber das Jahr 1891. Kurz davor sind bekanntlich die heute oft besuchten mittelalterlichen Fresken, die um 1310 entstanden sind, ja erst entdeckt worden, und zwar im Rahmen der Kirchenrenovierung ab 1889. Jahrhundertelang waren sie unter einer Mörtelschicht mit Frührenaissance-Malereien versteckt. Schlecht hat wohl Letztere, die im Zuge der Freilegung der mittelalterlichen Fresken völlig zerstört wurden, in Resten noch gesehen - und hier kurz beschrieben. Das ist ein Glücksfall! Sein Text gibt allerdings auch Rätsel auf.
Aber der Reihe nach. An die angesprochenen Restaurierungsarbeiten erinnern für jedermann sichtbar die Brüder Johann Jakob und Sebastian Wirsching auf dem großen Deckenfresko des Hauptschiffs der Kottingwörther Kirche. Denn sie haben sich dort namentlich mit der Jahresangabe 1889 als Restauratoren verewigt. Außerdem ist damals das Fenster in der Südwand (beim Blick in die Kapelle rechter Hand), das wohl beim Kirchenneubau (1760 bis 1763) ausgebrochen wurde, im romanischen Stil neu ausgeführt worden. Die auf den Fensterrahmen oben in Stein gemeißelte Jahreszahl 1892 erinnert daran. Der Mauerdurchbruch ist natürlich nicht ohne Kollateralschäden abgegangen: Unten fehlen wohl drei Frauenfiguren, oben rechts eine Reiterfigur, höchstwahrscheinlich der hl. Martin.
Joseph Schlecht hat offensichtlich von der Wiederentdeckung der mittelalterlichen Kunstwerke gehört, kam nach Kottingwörth und hielt fest, was er vorfand. Denn zu Beginn seines Beitrags schreibt er: „Gelegentlich der Restauration der Pfarrkirche zum hl. Vitus in Kottingwörd wurden in einer Kapelle, dem ehemaligen Presbyterium, Wandgemälde aufgedeckt, welche die Aufmerksamkeit der Freunde altchristlicher Kunst auf sich zogen. Eine nähere Beschreibung derselben dürfte im Diözesanblatte am Platze sein.“ Fotos enthält sein Beitrag leider nicht.
Was er vorfand, waren offensichtlich die größtenteils schon sichtbaren mittelalterlichen Fresken vor ihrer Restaurierung und nur noch Reste der Frührenaissance-Malereien. Denn seine Beschreibung der Vituskapelle enthält einerseits alle heute sichtbaren - inzwischen mehrfach restaurierten – Fresken. Sie nehmen den weitaus größten Teil seines Textes ein. Andererseits beschreibt er aber auch Verlorenes auf einzelnen Gewölbefeldern und „an den Wandungen des östlichen Fensters“, wie aus folgendem Zitat hervorgeht:
„Sowohl die Wände als die Gewölbefelder zeigen einen hellgrünen Grund, auf dem Heiligenfiguren und Darstellungen aus der heiligen Geschichte in lebhaften, zum Theil grellen Farben gemalt waren. Theilweise erhalten fanden sich an den Wandungen des östlichen Fensters, rechts der hl. Leonhard, links der hl. Martinus, ferner am Gewölbe der hl. Augustin und eine Engelsfigur. Den drei erstgenannten Figuren waren in gothischer Schrift die Namen beigefügt.
Der heilige Martinus ist stehend in jugendlicher Gestalt dargestellt, wie er mit dem Schwerte seinen Mantel theilt, der hl. Leonhard in weißem Habit mit schwarzem Mantel (Dominikanerhabit!) in einem Buche lesend. Die leichte und anmuthige Zeichnung der Figuren verräth eine sehr gewandte Hand. Das Angesicht des hl. Martinus ist von frommem, fast schwärmerischem Ausdruck. In den Grund zwischen den Figuren ist mit schwarzen Linien reiches Rankenwerk eingezeichnet. Die Gewölberippen waren hellrothbräunlich bemalt und mit Binden in schwarzen Linien ornamentirt, auf die Consolen waren in gleicher Manier Löwenköpfe gezeichnet.“
All diese Figuren, Farben und Motive sind heute gänzlich verschwunden. Stattdessen findet man eine ziegelrote Grundierung der konischen Fensterlaibung vor. Schlecht muss also noch einiges vor Augen gehabt, anderes womöglich erfragt haben. Er traf sozusagen in einer Übergangszeit ein. Der Putz mit den Renaissance-Malereien war bei seinem Besuch wohl bereits zum allergrößten Teil entfernt worden, sonst hätte er ja die mittelalterlichen Fresken in ihrer Gesamtheit gar nicht beschreiben können. Somit äußert er sich nicht näher zur Bemalung des Renaissanceverputzes. Wahrscheinlich hat er nur noch Reste davon zu Gesicht bekommen, zum Teil mit nur sehr schlecht erhaltenen Malereien, sodass Konkretes nicht mehr zu erkennen war. Das alles würde zudem erklären, dass der Putz samt Bemalung ohne Skrupel zur Gänze entfernt worden ist. Leider ist Joseph Schlecht nicht näher auf diese Umstände eingegangen.
Übrigens: Wie das Schwarz-Weiß-Foto von 1908 zeigt, war früher auch der hohe Sockel rundum mit (roter) Farbe bemalt. Wegen der aufsteigenden Bodenfeuchte wurde der Sockelputz 1999 komplett abgeschlagen, dann 2003 neuer Mörtel aufgetragen und weiß getüncht. Das Foto zeigt die Ostwand in Frontalansicht außerdem ohne das heutige schmale Fenster. Es wurde 1909 bei einer Fassadenrenovierung wieder freigelegt. Archivaufzeichnungen ist ferner zu entnehmen, dass 1891 drei durch das Kapellengewölbe gehende Glockenstränge entfernt wurden, da sie das Gewölbe sehr geschädigt hätten. Die „drei kleinen Glocken“ sind in den Westturm verbracht worden. Bei Schlecht findet diese Schutzmaßnahme für das Kapellengewölbe keine Erwähnung.
Von 1891 bis 1895 sind die freigelegten Fresken in der Kapelle vom Konservator Alois Müller aus München restauriert worden. Joseph Schlecht berichtet im besagten Pastoralblatt von 1891, dass sie nahezu vollständig erhalten seien. Wie schon gesagt: Bei der Freilegung wurde der darüberliegende Putz samt den Malereien aus der Frührenaissance völlig zerstört. Davon sind keinerlei Beschreibungen und Fotos bekannt. Durch die Beschreibung von Schlecht bekommt man aber wenigstens einen Eindruck davon. Seiner Meinung nach gehen die Renaissance-Malereien auf die Zeit des Bischofs Gabriel von Eyb (1496-1535), einem Zeitgenossen des Reformators Martin Luther, zurück. Schlecht bezeichnet sie als „wenig dauerhaft“. Dagegen schätzt er den Zustand der aufgedeckten mittelalterlichen Kunstwerke recht positiv ein: „Sämtliche Malereien sind zwar beschädigt, doch nur so, dass das Ganze wenig beeinträchtigt ist.“
Schlecht geht ferner davon aus, dass das Gewölbe der Kapelle sogar dreimal bemalt worden ist: „Die Wände zeigen Reste von zweimaliger, das Gewölbe von dreimaliger Bemalung.“
Das Gewölbe wird nur recht oberflächlich beschrieben. Es ist, wie schon erwähnt, von einem hellgrünen Grund sowie Heiligenfiguren und Bibelszenen die Rede. Aber der Zustand scheint so schlecht gewesen zu sein, dass Näheres nicht mehr zu erkennen war.
Am Ende seines Textes sorgt der Berichterstatter in zweifacher Hinsicht für Verwirrung: „Wahrscheinlich beim Bau der jetzigen Kirche, wenn nicht schon früher, wurde das ganze Innere der Kapelle mit einem etwa 1 cm dicken Mörtelbewurfe versehen. Damit dieser an der Wand haftete, wurden in dieselbe ohne Rücksicht auf die Gemälde Tausende von Löchern mit einem Pickel gehauen.“
Ein erstes Rätsel gibt die Bemerkung „beim Bau der jetzigen Kirche“ auf. Das wäre ja von 1760 bis 1763 gewesen! Diese Zahlen waren Schlecht bekannt, er nennt sie selbst an anderer Stelle. Wie das mit den Renaissance-Malereien zusammengehen soll, ist völlig unklar. Er verortet „die jüngste Bemalung“ ja selbst bei Gabriel von Eyb Ende des 15./Anfang 16. Jahrhunderts. Der Zusatz „wenn nicht schon früher“ ist hier ein wenig befriedigender Ausweg. Das zweite Rätsel ist der „Mörtelbewurf“ selbst, denn Schlecht sagt nicht, dass dieser bemalt gewesen sei.
Trotz der angesprochenen inhaltlichen Lücken und solcher Ungereimtheiten kann man aus seinem Text herauslesen, wie sich mit der Renaissance das Kunstverständnis völlig verändert hat: Der Betrachter der heutigen Vituskapelle sieht keine „lebhaften, grellen Farben“, keinen „hellgrünen Grund“. Auch die „anmuthige Zeichnung der Figuren“ und die „sehr gewandte Hand“ des Malers sind nirgends festzustellen. Den erwähnten „schwärmerischen Gesichtsausdruck“ kennzeichnet keine der vielen Figuren. All diese Charakterisierungen Schlechts für die Renaissance-Malereien sind bei den heute sichtbaren mittelalterlichen Fresken völlig fehl am Platz.
In der eher noch romanischen, höchstens frühgotischen Vituskapelle weisen die Fresken eine bewusst einfache Maltechnik mit wenigen Farben auf. Die Personen tragen ganz einfache Gewänder und sind auf eine schlichte, blaugraue Grundierung gemalt, die auf jegliches in der Renaissance übliches „reiches Rankenwerk zwischen den Figuren“ verzichtet. Ihre Körperhaltung samt Mimik und Gestik lassen nahezu keinerlei Typenvielfalt erkennen. Dem unbekannten Maler kam es nicht auf kunstvolle Effekthascherei, auf einen Kunstgenuss an, sondern auf eine einfache, aber eingehende zweidimensionale bildliche Vermittlung von Glaubensinhalten für gewöhnliche Christenmenschen. Nicht zuletzt gerade durch diese Schlichtheit vermag die Vituskapelle den Betrachter in den Bann zu ziehen. Eine „Predigt in Bildern“ ist das Bildpanorama der Kapelle einmal treffend genannt worden.
Vielleicht fanden die mittelalterlichen Fresken der Vituskapelle, die noch der romanischen Tradition entsprechen, deshalb zu Zeiten Gabriel von Eybs keinen Gefallen mehr, weil damals der äußerst kunstvolle Flügelaltar, der seit 1868 im Eichstätter Bischofspalais steht, hier aufgestellt wurde. Die „modernen“ Renaissancemalereien harmonierten mit dem Altarprunkstück einfach um Vieles besser.
Abgesehen von der Malweise und der Farbgebung gab es auch noch entscheidende weitere Unterschiede: Auch andere Heilige waren dargestellt. Einen hl. Augustinus und hl. Leonhard sucht man in der heutigen Kapelle vergeblich – sowie jegliche Schriftzeichen. Auch ein Mantel teilender hl. Martin fehlt. Er wird ursprünglich vielmehr – wie schon erwähnt auf einem Pferd sitzend – auf der verlorengegangenen Abbildung rechts vom 1892 abgeänderten Südfenster vermutet.
Was nur dem aufmerksamen Betrachter auffällt, beschäftigte auch Joseph Schlecht: die vielen Spitzhackenlöcher. Immer wieder meinen heutige Besucher der Vituskapelle, sie seien um 1891 durch rücksichtsloses Vorgehen beim Entfernen des Frührenaissance-Putzes entstanden. Dem ist keineswegs so, wie Bettina Röhrl, Restauratorin für Wand- und Deckenmalerei, bei ihren Restaurierungsarbeiten anlässlich des 250-jährigen Kirchenjubiläums im Jahr 2013 erläuterte. Die Hacklöcher stammen aus der Renaissancezeit, als die mittelalterlichen Fresken überputzt/übermalt wurden. Damit der neue Putz Halt fand, musste die Freskoschicht stellenweise aufgebrochen werden, da der neue Putz auf Farbe allein keinen dauerhaften Halt gefunden hätte. So beschreibt es ja auch Schlecht. Er spricht von „Tausenden von Löchern“. Sie wurden noch nie gezählt, aber Tausende sind es nun auch wieder nicht, eher Hunderte.
Schlecht beklagt einerseits dieses rücksichtslose Vorgehen, andererseits wertet er es auch als positiv, weil „die Malereien unter einem schützenden Bewurfe“ verborgen worden seien und ansonsten nicht so gut erhalten geblieben wären. Auch Konservator Alois Müller ist ja ob seiner wenig zurückhaltenden Restaurierungsmaßnahmen kritisiert worden: Er hätte weniger massiv ausbessern sollen. Die heutige Denkmalschutzbehörde würde seine „großzügige“ Vorgehensweise sicherlich nicht mehr zulassen. Man kann diese beklagen, aber sie hat auch etwas Gutes: Die damals fachgerechte umfassende Restaurierung vermittelt dem Auge des Betrachters nicht nur ein dem Original nahes, insgesamt harmonischeres Szenario statt des freigelegten weniger ansehnlichen, lückenhaften Flickwerks. Wir können so heute auch besser nachvollziehen, wie die „Predigt in Bildern“, die jahrhundertelang verdeckt war, auf die mittelalterlichen Gläubigen gewirkt haben mag.
Fotos:
- Blick in die Vituskapelle: rechts das 1892 eingebaute Fenster, oben auf der Frontseite Vitus, Modestus und Kreszentia an drei Stäben aufgehängt, links von Vitus (in der Mitte mit Heiligenschein) deutlich erkennbare Spitzhackenlöcher
- Das Südfenster, oben mit der Jahreszahl 1892, und die „Kollateralschäden“
- Das Schwarz-Weiß-Foto zeigt den ehemals farbigen Sockel und nur eine Nische in der Ostwand (Scan aus F. Hofmann und F. Mader: Die Kunstdenkmäler von Bayern Bezirksamt Beilngries I, 1908, Nachdruck 1982)